Zungen Raus Zum Dialogue!

Die rätselhafte unter den Konversationsmaximen von Paul Grice ist die der Relevanz: Sei relevant! Mache deinen Beitrag zur Konversation relevant.
Bis heute unerklärlich bleibt, was es damit eigentlich auf sich hat. Seit Jahrzehnten zerbricht sich die Sprachfilosofie den Kopf darüber, was das nun genau bedeutet. Theorien wurden aufgestellt und wieder verworfen, dicke Wälzer die in staubigen BiIbliotheksregalen rumlungern und zu erklären versuchen. Relevanz - Was ist das?
Ist Relevanz nicht relativ? Mitnichten!

Der Arbeitseifer Kieran Hebdens [aka Four Tet] bringt es mit sich, dass am 19. März ein neues Album von ihm und Steve Reid erscheint, zu dem die Welttournee schon letztes Jahr stattfand.
"Tongues", das zweite [bzw. je nach Zählweise dritte] und scheinbar auch nicht letzte Album von Kieran Hebden und dem Jazz-Schlagzeuger Steve Reid ist bereits vor einem Jahr, im Februar 2006, in den ehrwürdigen Exchange-Studios im Osten Londons aufgenommen worden. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings der erste Teil des Debüt-Doppelalbums, "The Exchange Session Vol.1" noch nicht in den Läden.
Schon die "Exchange Session" war im Jahr zuvor aufgenommen worden, improvisiert von zwei Musikern, die sich erst einen Monat zuvor kennengelernt hatten. Entsprechend roh und unverdaulich klingt die "Exchange Session" auch: brachial-filigran und vor allem unstrukturiert. Perkussiv-rhythmisches Schlagzeug und melodiöse Störgeräusch-Elektronik und das wie gesagt improvisiert. Hui.
Direkt ins Auge springt bei diesem Duo die scheinbare Distanz, oberflächlich betrachtet: mehr als 30 Jahre Altersunterschied, klassischer Free-Jazz und elektronische Musik. Steve Reids musikalische Wurzeln liegen im schwarzen New Yorker Jazz der 60er Jahre. An dieser Stelle wird in den Rezensionen über das Duo Hebden/Reid üblicherweise die Namedroppingliste herausgeholt und auf die Stars von Jazz, FreeJazz, RnB usw. verwiesen, mit denen Steve Reid [allerorten heißt es „die Legende“oder „der legendäre Schlagzeuger“, als würde der Waschzettel vom Domino-Label wortgetreu abgeschrieben] tatsächlich zusammen gespielt hat.

Unerwähnt bleibt dann aber meist, dass z.B. John Coltrane eben nur zufällig sein Nachbar war und mehr Musiker-Vorbild als „Weggefährte“ und dass Reid selbst von den Studioaufnahmen zu Miles Davis „Tutu“ eher ernüchterndes zu berichten hat. Das eigene "Mustevic"-Label in den Siebzigern lief nicht so gut, zu avantgardistisch und experimentell zu Zeiten des mainstreamorientierten Fusion-Jazz, sodass Platten wie "Nova" und "Rhythmatism" heute von SoulJazzRecords wieder neu aufgelegt werden müßen.

Kieran Hebden könnte rein rechnerisch (fast) sein Enkel und oberflächlich betrachtet kaum verschiedener musikalisch sozialisiert sein. Im kleinen englischen Putney gründete er Mitte der Neunziger mit zwei Schulfreunden die Postrockformation "Fridge", deren Schaffen vier erstaunliche und abwechslungsreiche [aber außerhalb Englands erschreckend unbeachtet gebliebene] Alben und unzählige z.T. obskure Singels hervorgebracht hat.

Mit dem Beginn des Studiums legte sich Hebden, der bis dahin bei "Fridge" vornehmlich die Gitarre gestrichen hatte, ein Laptop zu, um nach dem 2. Semester mit "Dialogue" seine erste (und beste) Solo-platte unter dem Pseudonym "Four Tet" zu veröffentlichen. Bis zum heutigen Tag kamen drei (einhalb) weitere Alben und endlose Singels [z.b. "Thirtysixtwentyfive", das exakt 36 Minuten und 25 Sekunden lang ist...] dazu, aber vor allem circa 50 Remixe für Gestalten wie Steve Reich, "Radiohead", "Aphex Twin", David Holmes, The Notwist, Jamie Lidell und Bloc Party [bitte Namedropping selber weiterführen]. Darüberhinaus scheint Hebden als Produzent ein gutes Händchen für den letzten Schliff am fast fertigen Lied zu haben, zumindest ließen ihn Beth Orton, Thom Yorke, "Dempsey" [usw....] ihre Ideen albumreif machen.
Privat, wenn es sowas für ihn überhaupt gibt, ist Hebden ein leidenschaftlicher und unersättlicher Plattensammler, was man wiederum seinen Dj-Mixen anmerkt, z.B. den sehr schönen LateNightTales und den wohl abwechslungreichsten aller DJ-Kicks.

Hebden und Reid wollen zusammen vor allem eins sein: authentisch. Deshalb auch keine Overdubs und keine Edits: alles live eingespielt, ohne Nachbearbeitung. Es soll Live klingen, denn das ist es auch. Aber eigentlich nur die Improvisation selbst kann ihrer Überzeugung nach überhaupt noch für Authentizität bürgen. Vorher nicht wissen, was hinten rauskommt, aber trotzdem wild entschlossen. Oder gerade deswegen.
Ofizielles Werbevideo zu "Brain"

"Tongues" bleibt allerdings im Vergleich zur "Exchange Session" im improvisativen Rahmen, auch im zeitlichen. 10 Stücke in 45 Minuten ist schon fast wie ein typisches PopRock-Album. Die ersten drei Lieder müßen es sich gefallen lassen, hier als Ohrwurmkandidaten bezeichnet zu werden, "Four-Tet"-iger sozusagen, danach wirds abstrakter. Die Melodien sind eingängig, die Beats straff und z.B. Harfen-Sampels in "Our Time" lassen das "Four Tet"-Erfolsgalbum "Rounds" noch einmal vor dem geistigen Ohr auferstehen.

Bei "People Be Happy" werden die Störgeräusche, das Fiepen und Schnarren, das Gluckern und Blubbern schon dominanter. Insgesamt weniger Glöckchen, mehr Gongs als beim Erstling. "The Squid" hat durch die verzerrten Synthetics etwas von düsterem HipHop, "Superheroes" kommt durch die Alarm-Geräusche ein bisschen wie frickeliger Electro daher. Einen schönen entspannten Ausklang bereitet "Left Handed, Left Minded" da es die Geschwindigkeit zurückfährt und auf spärische Hintergrundtöne baut. Einzig aus dem Rahmen fällt "Greensleaves", bei dem jeden Augenblick des Schlagzeug losdemmeln könnte, dies jedoch nicht tut. Nagut.

Aber machen wir uns nichts vor: "Tongues" funktioniert nur in dem Kontext, in dem es von Hebden und Reid konstruiert wird. Unsere Hörgewohnheiten sind, geben wir es ruhig zu, orientiert an Studioproduktionen, die Live nur mit viel technischen Rafinessen wieder reproduziert werden können, also Musik die es in Wirklichkeit so gar nicht gibt. Zu glattgelutscht und blankpoliert ist das meiste, was in den Regalen der Musikabteilungen großer Warenhäuser unsere Aufmerksamkeit erheischen möchte. Bei elektronischer Musik geht dies in der Regel heutzutage sogar soweit, dass nicht mal mehr reale Instrumente existieren, sondern nur noch abstrakte, hochartifizielle Klangklötzchen [Sinuswellen-Modulationen], die softwarevermittelt hin und hergeschoben werden.

Ad Absurdum geführt oder zumindest mit einem leicht ironischen Augenzwinkern versehen wird diese ganze Unternehmung schliesslich dadurch, dass es eine Single-Auskopplung und Remixe von zwei ausgemachten Elektro-Disco-"Superhelden", James Holden und "Audion", dazu gibt. Der erstere, eine Variation des Openers "The Sun Never Sets", kommt sehr defragmentierend daher - eine anhaltende Modulation des Themas -, beim zweiten ist das Original "People Be Happy" annähernd unerkennbar zu einem straighten Extended-Mix-Dancefloor-Schubser mutiert. Und da darf man sich dann schon mal fragen, wie das zusammenpassen soll, der Kopf und der Fuß. Aber es passt, denn Hebden und Reid kommen mit "Tongues" insgesamt dem Live-Publikum schon sehr entgegen.
Live @ Roskilde Juli 2006

Beim bisher einzigen hierzulande-Auftritt der beiden, im Karlstorbahnhof in Heidelberg, Oktober letzten Jahres, mußten die Veranstalter auf Wunsch der Musiker noch kurz vor Beginn die Bestuhlung des Saales entfernen. Statt ergrautem Jazzpublikum mit Rotweingläsern standen da eher Turnschuhträger mit Bionade in der Hand. Schon nach einer Viertelstunde war Steve Reid durchgeschwitz, so hatte er auf das Schlagzeug eingeprügelt. Entsprechend aufgeheizt war da auch schon die Atmosphäre im Raum.
Nach einer weiteren Viertelstunde war Reid nur noch Wasser und angesichts des leicht vorgerückten Alters dieser "Legende" hätte man sich unter anderen Umständen echte Sorgen um den alten Herren machen müßen. Doch dessen denkenswürdiges und ansteckendes Dauergrinsen und -lachen belehrte eines besseren. So kontinuierlich und langanhaltend habe ich noch nie in meinem Leben jemanden so ansteckend Grinsen gesehen [außer vielleicht beim Zivildienst in der Psychiatrie, aber das war sicher etwas anderes]. Und das zu dem Krach, den Kieran Hebden dazu veranstaltete: permanentes Fietschen, Zirpen, Quietschen, Dröhnen, Brummen, Bollern, Knarzen. Aber das alles halbwegs rhythmisch und im Takt: pretty heavy, violently ass-kicking dance music, oh shit!
Live @ Karlstorbahnhof Heidelberg Oktober 2006

Komisch nur, dass niemand der Anwesenden so etwas erwartet haben konnte, schliesslich kommt die Platte mit der Musik zu dem Konzert erst demnächst, am 19.März, heraus. Die Vermarktungsinteressen von Domino-Records stehen dem Output von Kieran Hebden also irgendwie etwas im Weg. Ob deswegen auch, das seit Jahren angekündigte und auch längst fertige fünfte Album von "Fridge" deswegen erst im Juni herauskommt bleibt hier erstmal unklar. Der Webseite von Steve Reid ist übrigens zu entnehmen, dass das Duo Ende Januar mit dem Organisten Boris Netsetaev [zu hören auf dem Album "Spirit Walk" des Steve Reid Ensembles von 2005, auch dort mit dabei: Kieran Hebden an den Electronics] als "Steve Reid African Ensemble" im Senegal war, um dort mit einheimischen Musikern ins Studio zu gehen. Wann wohl dieses Album veröffentlicht wird?

Wie auch immer. Sicher ist lediglich, dass Relevanz nicht durch Konsens hergestellt wird, sondern im Kommunikationsbeitrag selbst enthalten ist oder eben nicht. Relevanz ist der Unterschied zwischen "Blabla" und "So ist es, und nicht anders!" Sie läßt sich nur mühsam simulieren und selbst das fliegt über kurz oder lang immer auf...

Kieran Hebden & Steve Reid
"Tongues"
Domino, 19.03.2007




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